
LEAN LOGISTIK IM KRANKENHAUS
KONTINUIERLICHE VERBESSERUNG DER LOGISTISCHEN PROZESSE IM OPERATIONSBEREICH
21.12.2018 von Christian Schulz
Stellen Sie sich einen Betrieb vor, in welchem hochkomplexe und extrem sensible Baugruppen montiert werden. Eine logistische Prozessstruktur, welche über mehrere Sauberkeits- und Reinheitszonen eine 100-prozentige Verfügbarkeit in nahezu unendlicher Bauteilvarianz, sicherstellen muss und darüber hinaus 0 Fehler nicht nur als hehres Ziel, sondern als Selbstverständlichkeit erachtet werden. Dieser Betrieb könnte im Automobilbau, dem Maschinenbau oder in vielen anderen der hochindustrialisierten Branchen angesiedelt sein. Bei genauer Betrachtung könnte der beschriebene Betrieb jedoch auch auf ein Krankenhaus, genauer gesagt auf die logistische Versorgung eines Operationsbereichs zutreffen.
Wir haben mit den klassischen Denkmustern gebrochen, wonach in einem Krankenhaus ein eigenes Prozessverständnis sowie eigene Vorgehensweisen, Strategien und Methoden zur Prozessentwicklung herangezogen werden und haben die Prozesse nach der Herangehensweise von Lean-Logistik sowie den Gesichtspunkten einer modernen Automobilproduktion analysiert und optimiert. Welche Erkenntnisse im Rahmen der Projektarbeit gemacht wurden und welche Chancen sich für weitere Dienstleistungssegmente daraus ableiten lassen, haben auch uns überrascht.
Betrachtungsperspektive
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind Patient in einem Krankenhaus und Ihnen steht eine Operation bevor. Sie werden von der Pflegekraft auf ihrer Station abgeholt und mit dem Krankenbett in Richtung Operationsbereich geschoben. Sie werden in den sterilen Bereich des Operationsbereichs eingeschleust und es werden die letzten Vorbereitungen vor der anstehenden Vollnarkose an Ihnen vorgenommen. Was wird Ihnen in dieser Situation wohl durch den Kopf gehen? Neben einigen Ängsten und persönlichen Fragestellungen werden Sie sich mit Sicherheit die Frage stellen, ob der Arzt bzw. das Personal wohl kompetent genug erscheinen? Was Sie sich vermutlich nicht fragen werden, ist: „Ist der Logistikprozess für diese Operation leistungsfähig genug?“ – diese zugegeben etwas überspitzt versachlichte Fragestellung spiegelt am deutlichsten die Unterschiede in der Fokussierung und Wahrnehmung wieder. In einer modernen, industriellen Automobilproduktion würden Sie sich wohl nicht allein die Frage stellen, ob die Montagetätigkeiten zufriedenstellend ausgeführt werden, da diese nur der letzte Prozess einer sehr langen Liefer- und Materialflusskette aus mehreren Werken, Abteilungen und Prozessen sind. Sie würden zwangsläufig Ihren Fokus auf die gesamte Prozesskette und somit auch auf die logistischen Prozesse und Lagerstufen lenken. Warum sollte bei unserer gesundheitlichen Versorgung also nicht auch die gesamte Prozesskette ausschlaggebend sein?
Der Wertstrom
Wie also sieht der vorgelagerte logistische Prozess vor der eigentlichen Operation aus? Gibt es Parallelen zur Industrie? Wo sind grundsätzliche Unterschiede? Um ein gemeinschaftliches Prozessverständnis zu erlangen und die Mitarbeiter für Prozessstrukturen, Wertschöpfung und Durchlaufzeiten sowie den Paradigmenwechsel, weg vom Personen- hin zum Prozessdenken zu aktivieren, haben wir mit der logistischen Wertstromanalyse die Versorgungsprozesskette vom Lieferanten bis in den Operationssaal abgebildet. Über die zentrale Rolle der Durchlaufzeit und das methodische Versachlichen der Prozesskette konnten aus dem Projektteam eigenständig Prozessstörungen und Verschwendungen identifiziert und daraus die notwendigen Handlungsfelder abgeleitet werden. Neben den Prozessen der komplexen Nachschubversorgung konnten darüber hinaus weitere Prozesse wie z.B. die hausinternen Sterilisationskreisläufe oder gar der Patientenfluss mit der Wertstromanalyse abgebildet werden. Aufgrund der zentralen Rolle von Durchlaufzeit und Prozessparametern wie Zykluszeiten und Rüstzeiten bei der Bewertung der Leistungsfähigkeit des Prozesses entstand eine spürbare und offensichtlich für viele Mitarbeiter des Krankenhauses neue Sichtweise, Prozesse zu analysieren und Probleme als Potentiale und Schätze zu verstehen.
Die Parallelen
Was glauben Sie waren die zentralen Themen, welche aus der Wertstromanalyse hervorgingen? Krankenhaus spezielle Fachoptimierungen? Nein! Es waren die üblichen Verdächtigen und Grundprobleme eines jeden Produktionsbetriebs: „Prozessstörungen“, „Steuerungsaufwand“, „Rüstzeiten“, „Bestände“, „Standards“. Gegenüber einem Produktionsbetrieb traten diese Probleme nur etwas anders in Erscheinung. So war z.B. eine häufige Prozessstörung, dass Patienten nicht pünktlich von der Station in den OP gebracht werden. Oder dass kurz vor der Operation festgestellt wird, dass nicht alle Laborwerte vorhanden sind. Beides hat zur Konsequenz, dass der Operationssaal nicht produktiv ist und kurzfristig umgeplant werden muss. Stichwort „situatives Reagieren“, was in Konsequenz häufig einen Dominoeffekt an Folgeproblemen verursacht.
Auch Rüstzeiten haben eine zentrale Rolle, da die Produktivzeit eines Operationssaals maßgeblich durch die Wechselzeit zwischen zwei Operationen bestimmt wird und somit von einer Rüstzeit, welche wiederum von vielen Einzelprozessen definiert wird, abhängig ist. Ähnlich wie in vielen Fabriken ist ein weiteres großes Thema die Flächenanspannung aufgrund der vielen Bestände im Operationsbereich. Viele Bestände gehen häufig einher mit einer unzureichenden Nachschubsteuerung und den daraus resultierenden Sicherheitsbeständen, welche dann aufgrund der Platznot nicht zentral, sondern auf viele einzelne Schränke verteilt gelagert werden. Durch die hohen Bestände und die verteilte Lagerung handelt man sich zwangsläufig weitere Themen wie z.B. die Entnahmereihenfolgen (FIFO), Verfallsdaten bei Medikamenten und einen hohen Verwaltungsaufwand ein.
Die Prinzipien
Dass wir im Wertstrom eines Krankenhausprozesses auf identische Handlungsfelder wie in einem Produktions- oder Montagebetrieb treffen, zeigt einmal mehr, dass der Nordstern der Prozessverbesserung für alle gleich ist und im Umkehrschluss, dass die Problemlösungsroutinen, die Vorgehensweisen und Methoden universell anwendbar sind. Für die Projektarbeit im Operationsbereich ging es nun darum, die grundsätzlichen Prinzipien „Takt“, „Fluss“, „Pull“ und „Perfektion“ auf die Prozesswelt im Krankenhaus zu adaptieren und daraus die sinnvollen nächsten Zielzustände für den Wertstrom zu formulieren.
Viele bereits in anderen Branchen etablierte Systeme wie z.B. eine KANBAN Nachschubsteuerung oder ein getakteter Milkrun zur hochzyklischen Versorgung der operationsnahen Kommissionier-Zone aus einem zentralen Cross-Dock/ Verteilzentrum, konnten in einem logistischen Zielzustand Anwendung finden. Durch den Aufbau einer krankenhausinternen Hochleistungslogistik konnte zum einen eine Trennung der logistischen von den fachlichen bzw. am Patienten wertschöpfenden Tätigkeiten erzielt werden. Durch die Trennung der Tätigkeiten konnten zum anderen die logistischen Kompetenzen gebündelt, besser organisiert und effizienter abgewickelt werden. Ziel war es, die logistischen Prozesse und Bestände weitestgehend aus dem Operationsbereich zu verbannen. So werden beispielsweise operationsspezifische Sets angeliefert, sodass man nicht mehr im OP einzelne Komponenten zusammensuchen bzw. kommissionieren muss. Lieferscheine kontrollieren oder Nachbestellungen beim Lieferanten tätigen sind logistische Prozesse und hatten in einem Zielkonzept für den Operationsbereich ebenfalls nichts zu suchen.
Auch bei Fragestellungen wie man die Steuerung der Patienten von der Station in den OP und vom Aufwachraum zurück auf die Station besser und gleichmäßiger gestalten kann, konnten wir uns bei der allgemein bekannten CONWIP-Systematik bedienen. Zielsetzung hierbei war es, die Prozesskette bei unterschiedlich langen Operationszeiten und mehreren Operationssälen trotzdem mit einer konstanten Anzahl Patienten zu füllen.
Bei der Optimierung der Rüstzeiten der Operationssäle konnten wir mit der SMED-Methode und dem Grundsatz eines parallelisierten und verschwendungsfreien Rüstprozesses diesen erheblich reduzieren, sodass auf Tagessicht mehrere Stunden zusätzliche Produktivzeit in den Operationssälen zur Verfügung stehen. Der Schlüssel hierbei ist nicht das Beschleunigen der Rüstprozesse an sich, sondern das analytische Hinterfragen mit den 8 Schritten zur Rüstoptimierung, ob die einzelnen Prozesse sowohl verschwendungsfreier als auch aus dem internen Rüstprozess in einen Vor- bzw. Nachbereitungsprozess (externer Rüstprozess) gewandelt werden können.
Die Erkenntnisse
Jede Branche hat ihre Besonderheiten und speziell in den Dienstleistungsprozessen erscheinen uns häufig die Unterschiede auf den ersten Blick größer als die Parallelen. Bei genauer Betrachtung und Analyse lassen sich die Probleme jedoch immer wieder auf wenige Grundsätze zurückführen bzw. reduzieren. Eine Organisation, die lernt die grundsätzlichen Prinzipien einer synchronen Unternehmensorganisation in einem geführten Veränderungsprozess anzuwenden, bewegt sich aus der Wissenszone in die Lernzone, in welcher zwangsläufig neue Prozessinnovationen entstehen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es auf die Prozessentwicklung positiven Einfluss hat, wenn man „out of the box“ denkt und sich die Frage stellt, was man aus anderen Branchen und Unternehmen als Impulse für den eigenen Veränderungsprozess mitnehmen kann.